16.06.-15.07.2024
Unsere Zeit in Marseille fängt unverfänglich an. Nachdem ich mich von dem mitgebrachten Fieber erholt habe, wollen wir trotz der hohen Liegekosten von 55 EUR immerhin 1,5 Wochen bleiben, um Marseille und Umgebung wenigstens ein wenig gesehen zu haben. Täglich singen und klappern die Damen der Raumpflege in ihrem Protest vor ihrem Hotel und stimmen uns in den Tag ein. Wir erschließen uns die Gegend, zunächst um den alten Hafen herum, dann immer weiter in die Stadt hinein.
Es stinkt hier, man kann es nicht ignorieren, abseits der hoch touristischen Bereiche oft nach Urin. Marseille ist ein Moloch und war das sicherlich mit dem großen Hafen schon immer. Man muss die Stadt zu nehmen wissen, dann geht es etwas besser.
Dort, inmitten von Graffiti und Uringestank finden wir im Stadtteil Notre-Dame du Mont ein hervorragendes veganes Lokal. Die Gegensätze sind hier brutal. Ein obdachloses Paar schläft vor dem Lokal in der Einfahrt eines Parkhauses den wahrscheinlich kürzlich erworbenen Drogenrausch aus. Ein weiterer Obdachloser sorgt für Ordnung und komplementiert die beiden von der Fahrbahn, als das nächste Auto nicht mehr um die beiden herum in die Einfahrt hinein kommt. Die Insassen steigen sicherheitshalber wohl gar nicht erst aus.
Der Kontrast zu der offenen See oder einer ruhigen Ankerbucht kann hier, fast mitten in dieser Großstadt liegend, mit allen Vor- und Nachteilen kaum größer sein. Wir werden die Vorteile sehr bald nutzen und schätzen lernen.
Starlink
Dann kommt mein Paket! Ich habe es endlich getan und mir eine Woche vor der Ankunft eine Starlinkantenne bestellt. Die Marina will hier keine Pakete für ihre Gäste annehmen. Ich hatte via DHL an ein DHL Shop bestellt, wo ich sie mit Vorlage Personalausweis abholen wollte. So meine Hoffnung. Das Paket ging auch mit DHL auf den Weg, wurde in Frankreich dann aber von DHL an LaPoste übergeben, wo ich sie immerhin an eine Abholstation von LaPoste umleiten und dort abholen konnte. Kompliziert ohne feste Adresse, aber immerhin kommen die Sachen an.
Viele Überlegungen und Recherche sind bereits in den Montageort und die sparsame Stromversorgung der Antenne investiert worden. Die Schüssel sollte erst im kommenden Winter fachgerecht am Geräteträger montiert und verkabelt zu werden. Bis dahin wollte ich mich weiterhin mit den SIM-Karten und ihren immer mal wieder mangelnden Verbindung quälen, die das Arbeiten und viele Videokonferenzen schon zur Hölle gemacht hatten. Oft kaufe ich gleich zwei SIM-Karten von unterschiedlichen Providern, damit wenigstens und hoffentlich eine von ihnen mit ihrem jeweiligen Netz genug Bandbreite bereitstellt. Gerade an Orten mit viel Touristen ist das Netz meist schlecht. Ich muss mir die Verbindung dann mit vielen Handys teilen und bekomme immer wieder Sekunden mit schlechter Bandbreite. Bei allen Arten von Internetnutzung fällt das kaum auf. Nur bei Videokonferenzen, wo es um Echtzeit und Bandbreite geht, habe ich dann mehrere Sekunden Aussetzer oder schlimmeres.
Währenddessen sagt mir Gilles von der SY Balena, einer anderen Sirius 35, schon seit Jahren, ich soll das Ding doch einfach kaufen und an Deck stellen. Nun habe ich meine Blockade im Kopf endlich beseitigt und tue genau das! Das Provisorium löst bereits das Problem. Es ist eine unerhörte Erleichterung. Ich stelle die Schüssel einfach aufs Vordeck, führe das Kabel durch die Dachluke provisorisch zum Router, welcher wiederum mit der Steckdose verbunden wird. Die Schüssel richtet sich nach einigem Nachdenken aus und ich habe Breitbandinternet mit wahnsinnigen 150–200 MBit, dem drei bis Vierfachen des DSL in Mainz und keine Sorgen mehr.
Für den Hafen ist das alles, was ich benötige. Auf See wäre das zu wacklig, aber auch nicht unbedingt notwendig.
Museen
Natürlich ist hier in Marseille der Besuch vieler Musen Pflichtprogramm. Filip arbeitet einen Schlachtplan aus, den es abzuarbeiten gilt. Architektonisch hebt sich das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers spektakulär heraus, da es zum einen im historischen Fort Saint-Jean untergebracht ist, dem majestätischen, die Hafeneinfahrt bewachenden Festungsbau zur rechten auf dem nachfolgenden Bild …
… und zum anderen in einem futuristischen schwarzen Komplex zur Linken, in den man über eine bemerkenswerte Fußgängerbrücke eintaucht.
Inhaltlich geht das gezeigte hier leider nicht besonders an mich. Nur ein paar Sachen finde ich, abgesehen von der spektakulären Architektur des Museums selbst, interessant:
Schon eher komme ich, allerdings auf niedrigem Niveau, im Frac Sud – Cité de l’art contemporain auf meine Kosten. Da Marseille Austragungsort der Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele sein wird, steht die dargestellte Kunst in den Museen der Stadt derzeit im Zeichen des Sports.
Um weiter ins Land zu kommen, benötigen wir ein Auto. Hier hilft neuerdings die App Getaround, auf der Privatpersonen ihr Auto vermieten, was hervorragend funktioniert. Wir fahren so nach Aix-en-Provence. Was für ein Ort! Hier gibt es keine Obdachlosen, nur Millionäre. Gestank gibt es hier auch nicht, auch kein Müll oder Ähnliches auf der Straße. Und wenn man mal eine einfache Häuserwand hat, ist das natürlich viel zu gewöhnlich. Da malt man schöne Fenster darauf, damit die Fassade auch etwas hermacht!
Der Gegensatz zu Marseille könnte nicht extremer sein. Unser netter Stegnachbar, Arzt seines Zeichens, wohnt natürlich hier und hat nur sein Boot in Marseille. Ist ja klar!
Etwas außerhalb von Aix-en-Provence gibt es dann wiederum die Fondation Vasarely. Hier geht es nun um Farben, Geometrie und Räumlichkeit. Heute lässt man so etwas computergeneriert nach zwei Minuten aus dem Drucker laufen. Die Bilder hier sind aber aus den 60’er des letzten Jahrhunderts und teilweise mehrerer Meter groß und handgemalt. Alleine das ist bereits beeindruckend. Das Logo von Renault hat Vasarely entworfen.
Auf Filips Zettel steht außerdem, neben 2–3 kleineren Museen, deren Beschreibung ich hier überspringe, noch das monumentale Château La Coste, wohin wir natürlich fahren. Dabei handelt es sich um eine Kombination von Luxushotel, Weingut und Freilicht-Kunstmuseum. Filip gefällt es, ich finde es schon zu weit darüber raus, mit so viel teuer hergestellter monumentaler Kunst. Immerhin passt es damit zum Rest der Anlage und einige Dinge sind, ich gebe es zu, beeindruckend.
Eine schlimme Diagnose
Irgendwann, zwischen all diesen Aktivitäten, macht Filip an sich eine Entdeckung, die er mir nun bereits ein zweites Mal und bestimmter mitteilt. Mehr aus dem Impuls heraus, hier den Verdacht auszuräumen, als der Entdeckung viel Bedeutung beimessen zu wollen, machen wir einen Termin bei einem englischsprachigen Urologen. Es kann schließlich nicht sein, was nicht sein darf!
Von dort kommt Filip ohne Entwarnung zurück. Die so trockene wie brutale vorläufige Diagnose: Es handelt sich höchstwahrscheinlich um einen Tumor. Eine Verschreibung für Ultraschall und Blutproben hat er zur weiteren Abklärung dabei. Weitere Abklärung, Worte, die Hoffnung verursachen, in einer völlig surrealen Situation, weit entfernt von der gewohnten und Sicherheit gebenden Normalität. Vielleicht ist es doch nichts. Wir machen ein darauf spezialisiertes Krankenhaus ausfindig, wo er sich am kommenden Tag vorstellt. Hier ist die medizinische Infrastruktur einer Großstadt wie Marseille nun wirklich von großem Vorteil, auch wenn man natürlich nicht tatenlos auf Filip wartet, wie er herausfinden muss.
Er steht dort nun zunehmend hilflos an der Anmeldung und bekommt erklärt, dass sie das, was er möchte, natürlich machen. Aber nicht heute, sondern mit Termin und in zwei bis drei Wochen. Das ist für uns allerdings vollkommen unbrauchbar. Eine dort arbeitende Frau, die bei Filips verzweifeltem Anblick und seiner abzuklärenden Diagnose wohl zurecht massive Mutter – Beschützer – Instinkte entwickelt, nimmt ihn unter ihre Fittiche. Sie wird Held und Engel in einem, indem sie Filip direkt in die jeweiligen Abteilungen nimmt und dort jeden durchaus vorhandenen Widerstand bricht, was einige Zeit in Anspruch nimmt, aber vollen Erfolg beschert. Eine Schwester erjagt sie sogar im nahen Park, um diese zu verpflichten. Am Ende des Tages hat Filip die bisher nicht begutachteten Aufnahmen des Ultraschalls. Die für uns vollkommen unverständlichen Ergebnisse der Blutprobe kommen am nächsten Morgen
Wir machen direkt wieder einen Termin bei einem weiteren Urologen. Das geht im Übrigen über die App Doctolib beeindruckend einfach. Die APP verwende ich bereits in Deutschland gerne, um einen freien Termin bei einem Arzt zu buchen. Wie ich entdecke, funktioniert die in Frankreich ebenfalls hervorragend und ich finde direkt am nächsten Tag wieder einen freien englischsprachigen Facharzt.
Dieser ist im Gegensatz zum ersten wesentlich mitteilsamer und gibt Filip in einem längeren Gespräch viele Informationen, die endgültige Diagnose und die daraus folgende Konsequenz: ab nach Hause und in den OP!
Wir tun, was zu tun ist. Es wird organisiert, informiert und gebucht, ohne das alles emotional zu verstehen oder zu verarbeiten. Filip fliegt mit dem nächsten Ryanairflug für spektakuläre 35 EUR noch am Samstagmorgen über Wien nach Hause in die Slowakei. Am Sonntag stellt er sich im Krankenhaus vor, am Montag wird die OP sein.
Ich versuche heraus zu bekommen, wo ich das Boot loswerde. Unter dem Eindruck, es für viele Monate abstellen zu müssen, recherchiere und erwäge einige Möglichkeiten, die aber alle im Westen liegen. Alles in die Richtung bedeutet aktuell stundenlang gegen 30 Konten Wind anzubolzen. Vom Windwinkel her müsste es vielleicht gerade so gehen, der Komfort wäre ein Albtraum und ob das auch in der Praxis auf dem Wasser funktioniert, ist einfach nicht sicher vorherzusagen. Das alles nur, um das Boot dort abzustellen, direkt in den Bus zurück nach Marseille zu steigen, dort den Flieger nach Wien zu erreichen, gleichwohl ich dort gerade unter enormen Anstrengungen abfuhr? Es wirkt alles zu unsicher. Ich diskutiere und bin mir dann mit Filip einig, dass es das wichtigste ist, jetzt zu ihm zu kommen. Was später wird, werden wir sehen.
Also konsultiere ich die aktuelle Marina, erkläre unsere Situation und frage, ob ich nicht wenigstens noch zwei bis drei Wochen hier bleiben kann. Das geht. Ich bin erleichtert und buche den nächsten verfügbaren Flug am Dienstag mit Ryanair. Ebenfalls 35 EUR über Wien und weiter mit dem Zug in die Ostslowakei. Immerhin das klappt. Die hohen Liegekosten in Marseille spielen aktuell ohnehin keine Rolle mehr, sind ja nun auch nicht für den ganzen Winter. So verschieben sich Betrachtungsweisen.
Die Eingebung
Am Morgen des Fluges muss ich bereits vor 2:30 Uhr aufstehen, um rechtzeitig mit Skooter und Bus am Flughafen zu sein. Das Boot habe ich bereits abgeschlossen, eingemottet. Alle Bordverschlüsse sind zu, so wie ich es auch für eine längere Abwesenheit verlassen würde. Ich stehe nun mitten in der Nacht davor, habe noch etwas Zeit und denke noch kurz darüber nach, was ich dieses Mal trotz Checkliste vergessen haben könnte. Nur aus einem Gefühl heraus und weil ich einfach die Zeit habe, gehe ich noch einmal zurück an Bord, schließe auf, gehe ins Bad und hebe die Bodenplatte, wo ich schon am Vorabend die Logge gegen ihren Dummy getauscht hatte. Die Logge ist ein kleines Schaufelrad, das sich im Wasser dreht und somit die Geschwindigkeit durchs Wasser misst. Ich baue diese bei längeren Standzeiten aus, da sie sonst sehr zuwächst und nicht mehr dreht. Es kommt dann statt der Logge der im Bild befindliche Stopfen in das Loch im Boden, damit das Wasser nicht sprudelnd in das Schiff läuft.
Mich trifft der Schlag! Hier steht Wasser. Der Stopfen ist nicht dicht und nach einigen Tagen oder Wochen sammelten sich auch mit wenig Tropfen in der Minute viele Liter Wasser. Was hat mir denn diese glückliche Eingebung verschafft? Das hatte nie noch nie kontrolliert! Der Stopfen wird am Gewinde mit etwas Vaseline eingefettet und nochmals verschraubt. Ich bin durch die Aktivität und die schwüle Wärme der Nacht nass geschwitzt und warte, während ich trockne, ob das Taschentuch feucht wird, dass ich nun um den Stopfen am Gewinde gebunden habe. Nun bleibt alles trocken und ich ziehe erleichtert von dannen.
Bei Filip
So komme ich einen Tag nach seiner OP fast zeitgleich mit Filip in seinem Elternhaus an. Die OP ist gut gelaufen, der Heilungsprozess beginnt. Wir haben nun trotz allem eine schöne Zeit und ich vertiefe meine innige Freundschaft nebenbei weiter zu meiner dortigen Freundin. Wir sind unzertrennlich.
Filip erholt sich gut, ich bleibe 11 Tage. Unsere Gedanken gehen wieder zum Clipper, der noch verlegt werden muss. Der Plan ist jetzt, dass ich zurück zum Boot gehe und wir auf die Diagnose eines Spezialisten warten, zu dem Filip in ein paar Tagen in Bratislava gehen wird. In Abhängigkeit des Ergebnisses werde ich den Clipper entweder um die Ecke in Port Camargue bis auf Weiteres abstellen und sofort wieder zurückkommen. Oder, falls das nicht notwendig sein sollte, werde ich das Boot an die Algarve überführen, wo es ja kommendes Jahr weitergehen soll und wo es uns dann ggf. sogar noch zur Verfügung stehen würde. Letztes wäre also eine stark abgespeckte Version des ursprünglichen Plans.
Während ich Filip im Schoße seiner Familie zurücklassen muss, erreiche ich am 9. Juli das Boot, welches so daliegt, wie ich es verlassen hatte. Auch meine Hotelangestellten demonstrieren weiterhin jeden Tag und machen Krach und Dreck. Nur gesungen wird nicht mehr. Der Protest verlor zwischenzeitlich seine Fröhlichkeit und wird verbissen.
Filip vermeldet dann am 11. Juli nach seinem Besuch beim Spezialisten die hervorragende Nachricht, dass er keine Chemo bekommen wird. Der Tumor war zwar bösartig, aber sollte bisher nicht gestreut haben. Sie werden nur regelmäßig überprüfen, ob sich nicht doch noch irgendwo etwas entwickelt. Die Erleichterung ist allseits groß, ich schwebe den ganzen Tag, muss immer wieder vor Erleichterung schwer seufzen. Mit Glück war es das hoffentlich.
Abends beschließen wir dann, dass ich das Boot an die Algarve bringe. Ich bekomme einen Monat Zeit, dann kommt Filip mit Bruder und Mutter Anfang August zusammen angeflogen und alle machen ihren Jahresurlaub auf dem Boot. So wie jedes Jahr und auch so, wie es vor dem ganzen Durcheinander mal geplant gewesen war. Diese Normalität in Aussicht tut gut und die neue Aufgabe gefällt mir natürlich außerordentlich: Bringe das Boot alleine nach Faro. Setzte mit deinem Routing Wind und Wetter sinnvoll zur Fortbewegung ein. Du hast einen Monat. Eine Art Überführung, nur mit mehr Zeit und weniger Stress. Mal sehen, wie der Wind mitspielt.
Und der ist erst einmal Respekt einflößend! Der Mistral wird auf meinem Weg in der Nacht mit über 30 Knoten kurze Wellen von im Mittel 2 Metern erzeugen. Also vereinzelt auch deutlich höher. Wird schon irgendwie gehen, man wächst an seinen Aufgaben, denke ich mir und verbringe eine miserable und unruhige Nacht, während ich mich hin und her rolle und bereits die im Dunklen auf mich zu rauschenden Brecher fühle, bevor sie mir von Achtern das Cockpit fluten und den Clipper ständig herumwerfen.
Für den kommenden Tag, den 12.7. habe ich die beste Abfahrtszeit für Mittag berechnet. Am Vormittag dämmre ich noch weiter etwas vor mich hin, versuche versäumten Schlaf aus der Nacht nachzuholen, bevor ich ihn nur noch in Intervallen bekommen werde. Ich fühle mich aber immer blöder, verschiebe die Abfahrt auf den Nachmittag, um mich weiter zu erholen. Dass ich vermutlich etwas Temperatur habe, ignoriere ich noch, bis ich gegen 14 Uhr die beste Entscheidung der Woche treffe: Ich gehe nirgendwo hin, außer ins Bett! Ich habe schon wieder Fieber, wie ich nun auch offiziell feststelle. Was ist da nur wieder los?
Da der Clipper bereits für eine längere Zeit auf See ausgerüstet ist, habe ich kein Problem damit, einfach zwei Tage im Bett zu bleiben. Der Kühlschrank ist voll und ich habe noch ausreichend Appetit, dass sich primär die Früchte verputze. Die Marina ist telefonisch informiert, dass sich die Abfahrt noch einmal etwas verschiebt. Bis heute bezahlt und ausgecheckt hatte ich schon.
Zwei Tage später geht es schon wieder einigermaßen, sodass ich mich auch mal an Deck sehen lasse. Ich komme mit der Nachbarin ins Gespräch, die mir mitteilt, dass ich heute zumindest mit dem Boot nirgendwo hingehen werde, auch wenn ich das wollte. Es ist Nationalfeiertag, der Hafen für ein gigantisches Feuerwerk am Abend schon für jede Ein- und Ausfahrt gesperrt. Am späten Nachmittag wird es die Parade geben und ich könnte mich schon mal glücklich schätzen, dass ich für das Feuerwerk einen absoluten Logenplatz auf meinem Boot hätte!
Wow. Stimmt! Der 14. Juli, da war doch was. Keine Sache ist so schlecht, dass sie nicht für irgendetwas anderes gut ist. Ich hatte ohnehin nicht vor, mich irgendwo hinzubewegen. Aber perfekt, das nehme ich gerne. Mittlerweile lässt mich die Vorstellung, dass ich in meinem Zustand der letzten zwei Tage auf See mit > 30 Knoten Wind gewesen sein könnte, nicht das letzte Mal erschauern. Das wäre unter Umständen nicht gut gegangen.
Ich stelle mich in der nachmittäglichen prallen Sonne an den Straßenrand, aber die Parade kommt nicht so richtig in Gang. Die Soldaten der Parade nehmen hier ihre Aufstellung. Das Militär salutiert mal im stillgestanden, mal nicht. Ein General fährt im Jeep die Linien ab.
Von irgendwo kommt Musik. Dann rückte die Fremdenlegion mit ihren Képi Blanc bereits wieder ab, nimmt offenbar gar nicht an der Parade teil. Ich betrachte die Typen genauer: Söldner, gekaufte menschliche Kampfmaschinen, von überall auf der Welt. Nicht wenige mit asiatischem Einschlag, die dann den Kopf hinhalten, wenn Frankreich nicht die eignen Söhne und Töchter schicken möchte und das auch regelmäßig tut, ohne dass man viel davon mitbekommt. Gruselig, von welcher Seite man das auch betrachtet.
Meine Rekonvaleszenz ist bislang nicht abgeschlossen und die pralle Sonne nicht ideal. So verkrieche mich wieder im Bett, bevor die Parade richtig startet. Allerdings stehe ich natürlich auf, um den Höhepunkt des Tages nicht zu versäumen: das Feuerwerk.
Jedes Boot in der Marina scheint besetzt. Das Feuerwerk wird sowohl von der östlichen Festung, hoch oben über der Hafeneinfahrt abgeschossen, als auch direkt aus dem Hafenbecken, weswegen dasselbe eben gesperrt ist. Da die Boote die Logenplätze sind, nutzen Ihre Eigner sie zusammen mit ihren Freunden als solche auch. Man hat sich den Abend bereits mit dem Verzehr von Häppchen und dem einen oder anderen Gläschen verkürzt und alles wartet nun darauf, dass es losgeht. Ich bin ebenfalls bereit. Ein Stuhl und ein bereits unter Druck befindlicher Wasserschlauch stehen bereit. Letzterer aus dem Gedanken heraus, dass das, was explodierend hochgeschossen wird, brennend auch wieder herunterfallen kann. Die Nachbarn sind ebenso bereit, mit ihrem Schlauch zur Hand.
Was dann nach einer ordentlichen Verspätung losbricht, habe ich bisher nicht erlebt. Das größte und längste professionelle Feuerwerk, dem ich beiwohnen durfte. Und das direkt aus der Loge heraus. Gigantisch. Wozu Fieber nicht alles gut sein kann. Am Ende brennt dann nur etwas Gestrüpp oben an der Festung, aber alle Boote bleiben heile.
Nach diesem Abschiedsfest bereite ich am nächsten Tag erneut meine auf meine Abfahrt vor. Der nächste Mistral kündigt sich an, wird etwas schwächer ausfallen als der letzte und mir als Turbo für die ersten 20 Stunden dienen. Ich kann den Tag jetzt nutzen, um endlich auf die Île d’If zu kommen und mir den Kerker Edmond Dantes alias Grafen von Monte Christo anzusehen.
Am Tag vor dem letzten Abfahrtstermin hatte ich das schon mal probiert. Die Ausflugsboote fuhren aber aufgrund der hohen Wellen nicht. Jetzt ist das anders und ich erfülle mir diesen langgehegten Wunsch, denn schon mit der Marine auf Zerstörer Rommel war ich um 1996 hier, kam aber ebenso nicht auf die Insel. Heute also der dritte Versuch in 28 Jahren.
Edmond Dantes ist eine Romanfigur und hat demnach nie hier eingesessen, auch wenn die Geschichte in mir so lebhaft ist, dass ich es kaum wahrhaben will.
Dennoch kann er stellvertretend für die Menschen stehen, die hier tatsächlich zeitweise oder bis zu ihrem Tode weggesperrt waren. Die Vorstellung, in einem der Räume über Jahre vegetieren zu müssen ist furchtbar. Man weiß gar nicht, was besser ist. Die Zelle unter der Treppe für die zum Tode verurteilten oder die für die dauerhaften Insassen, in der auch mindestens Teile von einem der Filme gedreht wurde.
In manchen Zellen wird heute das naheliegende und sinnvollste gemacht, was man sich für einen solchen Ort wünschen kann: Man stellt Kunst aus.
Der Kontrast ist stark, zwischen dem dunklen Verlies mit wenig indirektem Tageslicht und seiner brutalen Hoffnungslosigkeit und der fantastischen Aussicht auf die Stadt und das Meer unter der Sonne am strahlend blauen Himmel. Ich genieße die Vorfreude, hier morgen auf eigenem Kiel aufbrechen und in Freiheit auf meinem Boot hinten den Horizont fahren zu dürfen.